Verletzung Rücksichtnahmegebot bei Einsichtmöglichkeit des Nachbarn

von | 10. Juni 2019 | öffentliches Baurecht

In Ballungsräumen sind Baugrundstücke in Wohngebieten immer seltener. Nahezu alle Flächen hat die Stadt meist bereits bebaut und versiegelt. Nur selten findet man noch freie Flächen für eine Lückenbebauung. Findet sich dann in einem Wohngebiet doch noch ein unbebautes Baugrundstück und wird hierauf ein mehrstöckiges Mehrfamilienhaus errichtet, ist Streit mit den umliegenden Nachbarn vorprogrammiert. Denn oftmals wird die zur Verfügung stehende geringe Baufläche bis an die Grenzen der baurechtlichen Zulässigkeit ausgenutzt. Schließlich will der Bauherr eine möglichst umfassende und rentable Bebauung verwirklichen. In einer Vielzahl von Nachbarklagen rügen Nachbarn einen Verstoß gegen das nachbarliche Rücksichtnahmegebot aufgrund der durch das Bauvorhaben geschaffenen Einsichtsmöglichkeiten. Der Beitrag soll verdeutlichen, dass Nachbarn mit dieser Argumentation nur selten durchdringen. 

Was ist das Rücksichtsnahmegebot?

Nach dem Gebot der Rücksichtnahme kann jede Grundstücksnutzung nicht ohne Rücksicht auf die jeweilig benachbarten Nutzungen genehmigt oder ausgeübt werden. Dieses Rücksichtnahmegebot verpflichtet zum einen die Behörde bei der Erteilung der Baugenehmigung. Die Behörde ist danach verpflichtet, die gegenläufigen Nachbarinteressen gegeneinander abzuwägen und die Zumutbarkeit des Vorhabens für die Nachbarschaft zu berücksichtigen, bevor die Baugenehmigung erteilt wird. 

Unter bestimmten Voraussetzungen gewährt das Rücksichtnahmegebot auch dem einzelnen Nachbarn ein subjektives Recht. Es dient damit auch dem Schutz individueller Interessen (sog. Nachbarschutz). Dass das Gebot der Rücksichtnahme dem Einzelnen ein subjektives Abwehrrecht verleiht, bedarf es jedoch strengen Voraussetzungen. 

Bietet das Rücksichtnahmegebot Schutz vor Einsichtnahme durch den Nachbarn?

Das Gebot der Rücksichtnahme gibt dem Nachbarn nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung verschont zu bleiben. Einen generellen Schutz vor Einsichtnahmemöglichkeiten bietet das Gebot gerade nicht. Vielmehr soll das Rücksichtnahmegebot einen angemessenen Interessenausgleich gewähren. Eine Rechtsverletzung kann man erst dann bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht. Ob eine Beeinträchtigung unzumutbar ist, ist im Wege einer Gesamtschau zu ermitteln. Hierbei ist immer auf den Einzelfall abzustellen.

Führt der Anbau eines Balkons zur Verletzung vom Rücksichtnahmegebot?

Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots geht grundsätzlich auch nicht mit einem Anbau eines Balkons einher. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass einem Nachbarns hierdurch das rechtlich geschützte Mindestmaß an privater Wohn- bzw. Privatsphäre genommen würde. Dem Nachbarn muss man zwar zuzugeben, dass sich die Möglichkeit der Einsichtnahme insbesondere auf seine Terrasse bzw. seinen Balkon und in den rückwärtigen Teil seines Grundstücks verstärkt. Die Schwelle zur Unzumutbarkeit ist jedoch meist nicht überschritten. 

Ein Anspruch des Grundstücksnachbarn auf Erhaltung eines „Gepräges mit Verhinderung jeglicher Einsichtsmöglichkeit“ lässt sich weder dem Gebot der Rücksichtnahme noch dem sog. Gebietserhaltungssanspruch entnehmen. Etwas anderes kann nur unter besonders gravierenden Umständen gelten, etwa, wenn man durch das neue Bauvorhaben unmittelbare Einsichtsmöglichkeiten aus kurzer Entfernung in Wohnräume schafft. 

aktuelle Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Sachsen

Das Oberverwaltungsgericht Sachsen hat in einem Beschluss vom 14.01.2019 (1 A 911/17) entschieden, dass das Gebot der nachbarlichen Rücksichtnahme in aller Regel keinen Schutz vor Einsichtsnahmemöglichkeiten auf Grundstücke bietet. Vielmehr müssen es Nachbarn in eng bebauten Wohngebieten hinnehmen, dass der Nachbar auf das eigene Grundstück Einsichtsnahmemöglichkeiten hat. 

Die Grenze des Zumutbaren ist nach Ansicht der Verwaltungsrichter erst dann überschritten, wenn ein Vorhaben Einsichtsmöglichkeiten auf das Nachbargrundstück eröffnet, die über das hinzunehmende Maß hinausgehen. Dies sei etwa dann der Fall, wenn man einen Balkon in unmittelbarer Nähe zu einem vorhandenen Schlafzimmerfenster errichten will oder wenn eine Dachterrasse aus kurzer Entfernung Einsichtsmöglichkeiten nicht nur in einen Innenhof, sondern auch in die Fenster eines Nachbargebäudes eröffnet (vgl. auch OVG Bautzen, Beschluss vom 28.05.2015 – 1 B 154/15). Nur in solchen Einzefällen ist die Grenze zur Unzumutbarkeit überschritten. In derartigen Ausnahmefällen könnte sich ein Nachbar erfolgreich gegen das Bauvorhaben zur Wehr setzen.

Diese Einwendungen gegen eine Baugenehmigung, die die Gestaltung des Bauvorhabens sowie Besonnung, Belichtung und Belüftung zum Gegenstand haben, kann der Nachbar nach einer aktuellen Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg vom 01.04.2019 (5 S 2102/18) nicht im Wege des Eilrechtsschutzes geltend machen, wenn die Baugenehmigung bereits vollzogen wurde.

Fazit

Das Gebot der Rücksichtnahme bietet somit grundsätzlich keinen Schutz vor Einsichtsmöglichkeiten auf benachbarte Grundstücke. Nachbarn in einem bebauten innerstädtischen Wohngebiet müssen es daher hinnehmen, dass Grundstücke innerhalb des durch das Bauplanungs- und das Bauordnungsrecht vorgegebenen Rahmens baulich ausgenutzt werden und es dadurch wechselseitig zu Einsichtsmöglichkeiten kommt. 

Insofern wird der Widerspruch oder die Klage des Nachbarn mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erfolgreich sein. Vor diesem HIntergrund stellt dies kein allzu hohes Risiko für Bauherren dar.

Für Fragen rund um Themen öffentliches Baurecht, Baugenehmigung, Nachbarrechtsschutz, Rücksichtnahmegebot, etc. stehe ich Ihnen jederzeit beratend oder vertretend mit meiner Expertise zur Seite.

Ihr Rechtsanwalt und Fachanwalt für Baurecht Markus Erler

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